1. Der Pianist und das Mädchen


    Datum: 08.08.2024, Kategorien: Romantisch Autor: Dingo666

    ... hatte durchs Fenster geschaut und den Klängen in seinem Kopf zugehört.
    
    Jean-Luc schüttelte einige Hände, lächelte brav, sagte nichts. Das war in ihrer arbeitsteiligen Methode nicht vorgesehen. Für das Sprechen war Marie zuständig. Er hörte ihr beiläufig zu, so wie er dem Klatschen zuvor gelauscht hatte. Erkannte Muster in ihrem nicht endenden Redefluss. Verborgene Tonfolgen, unbeabsichtigte Reime, kontrapunktisch ausgestoßenes Lachen. Seine innere Melodie passte sich unmerklich an und nahm diese Impulse auf, variierte sie, umschmeichelte das Hauptthema mit unendlich ausfächernden Ableitungen.
    
    Damit war er wieder im Gleichgewicht. Nun konnte es stundenlang so weiter gehen, ohne dass es ihm etwas ausgemacht hätte.
    
    Der Abend glitt an ihm vorüber wie eine Landschaft an einem Zugfenster. Distanziert und leer starrte er ihm hinterher. Irgendwann verabschiedete sich seine Mutter, um mit einem Reporter auf ein Gläschen zu einem Exklusiv-Interview zu verschwinden. Vorher sagte sie ihm genau, welche Linie er zu nehmen hatte, und dass er an der Türe der Straßenbahn auf seine Hände achtgeben sollte.
    
    "Ja, Mama", meinte er und küsste sie auf die hingehaltene Wange, die nach teurem Parfum duftete.
    
    "Denk daran, Deine Hände sind dein Kapital! Du musst gut darauf aufpassen, versprich mir das!"
    
    "Ja, Mama."
    
    Er versprach ihr das ein Duzend Mal pro Tag.
    
    Ein wenig später saß er auf einer Bank in der weitläufigen Gartenanlage hinter dem Palais und sah auf den Miniatursee ...
    ... hinaus. Es war schon nach zehn Uhr. Eine Zeit, in der er üblicherweise längst zu Hause saß und entweder eine letzte Übungsrunde spielte oder mit seiner Mutter einen Film im Fernsehen sah. Meistes auf Arte, manchmal auf France 1. Marie verabscheute die Privatsender mit ihrem Lärmprogramm und ihren Actionstreifen. Sie sprach oft davon, das Gerät abzuschaffen und nur noch Radio zu hören. Klassik natürlich.
    
    Heute war sie im Dienst. Das bedeutete, er hatte frei. Und wie üblich keine Ahnung, was er in diesen freien Stunden machen sollte. Also saß er hier, sah auf das spiegelglatte Wasser hinaus, und verfolgte, wie sich der Himmel langsam von einem satten Tiefblau zu einem lichten Sommernachts-Fast-Schwarz verdunkelte. Und hörte die ganze Zeit seiner Musik zu, die sich unmerklich anpasste. Jetzt, kurz vor dem endgültigen Einbruch der Finsternis, klang sie wie Waldhörner und ein einsamer Kontrabass.
    
    Plötzlich ein Lachen. Jung, lebendig, grell. So wenig zu seinen inneren Tönen passend, dass es sich schon wieder richtig anhörte. Ein Ausruf, unterdrücktes Gelächter. Jean-Luc drehte sich um.
    
    ***
    
    "Heee, diese verfickte Dornen! Haben mir mein schönstes Hemd durchlöchert!"
    
    "Psst, nicht so laut, du blödes Arschloch! Sonst hört uns noch jemand."
    
    Aurie kicherte unterdrückt. Claudes Ermahnung an Jac kam in einer Lautstärke, die nicht unbedingt geeignet war, eine Entdeckung zu verhindern. Sie trank einen Schluck aus der Sektflasche in ihrer Hand und nahm kaum wahr, wie die ...
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