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    Datum: 05.05.2024, Kategorien: Romantisch Autor: postpartem

    ... nicht heraus. Der Drummer war hervorragend, der Keyboarder mittelmäßig. Der Gitarrist würde meine Stücke spielen können, meine Soli niemals. Das hatte weniger damit zu tun, dass er nicht fingerfertig genug war. Es lag vor allem an meiner Technik.
    
    Im Gegensatz zu fast allen Gitarristen in Rockbands spielte ich nie mit Plektron, sondern meinen Fingernägeln, die ich lang wachsen ließ und mit Acryl verhärtete. Daraus ergaben sich andere Optionen, nämlich mehrere Saiten gleichzeitig anzureißen oder zu spielen, wobei ich mit dem Nagel meines Zeigefingers Geschwindigkeiten des Wechselschlages erreichte, die mit einem Plektron kaum hinzubekommen waren. Der resultierende Sound war organischer, natürlicher, dabei gleichzeitig schräger.
    
    Und einzigartig. Niemand sonst spielte damals diese Technik, na ja schon, aber bei ganz anderer Musik. Das hatte uns den Plattenvertrag eingebracht. Das hatte mir den Traum von vollen Hallen, bewundernden Fans und Anerkennung in der Szene eingebracht. Und Tilly den Tod.
    
    Ich schaffte es nicht einmal mehr, alle Stücke zu hören. Es war zu viel. Alles, was ich wollte war Stille. Und fand nur Leere. ___
    
    Ich hörte mir das Demo kein zweites Mal an. Beruhigte mich wieder. Freute mich auf das gute Wetter, dass sie für den Folgetag angesagt hatten. Seit Helges Besuch waren vielleicht zwei Wochen vergangen. Mein Handy klingelte.
    
    "Ja bitte?"
    
    "Hallo."
    
    Ich musste mich setzen, war vom Computer aufgestanden um das Handy vom Tisch zu nehmen. Das ...
    ... war sie, Carol. Ich war sprachlos. Eine unnatürliche lange Pause entstand.
    
    "Du hast mich gehört?", kam es schließlich.
    
    "Ja. Du bist Carol."
    
    "Genau. Helge hat mir deine Nummer gegeben. Er traut sich nicht, dich anzurufen. Ich möchte, dass du uns hilfst."
    
    Ihre Stimme war nicht weniger ausdrucksstark, wenn sie nicht sang. Voller feiner Nuancen und Vibrationen, voller Gefühl und voller Ruhe. Wenn sie ihre Gefühle nicht zeigte, in ihrer Stimme waren sie klar zu erkennen. Vielleicht sprach sie deshalb nicht viel.
    
    "Ehm... womit?"
    
    "Deine Stücke. Lippe kriegt nicht alles hin. Helge konnte ihm nicht erklären, wie du was machst."
    
    "Verstehe. Aber er hat erklärt, wie das zustande kommt?"
    
    "Ja."
    
    "Und dass ich keine Gitarre mehr spiele?"
    
    "Kommst du?"
    
    "Was?"
    
    "Wir proben morgen. Kommst du vorbei und hilfst uns? Helge textet dir die Details."
    
    "Ich weiß nicht..."
    
    "Das ist nicht wahr. Kommst du?"
    
    "Okay. Ich weiß aber nicht..."
    
    "Bis dann. Ich freue mich."
    
    Und legte auf.
    
    Fuck. Was war denn das?
    
    Nun verstand ich, warum Helge ihr "Dawn" nicht verweigern konnte. Das war ja eine seltsame Frau. Die ich unbedingt sehen musste, das war mir völlig klar. Scheiße. Ich hatte nie einen Führerschein gemacht. Da ich mein Leben in Großstädten mit einem gut funktionierenden öffentlichen Transport zugebracht hatte, gab es nie einen Grund. Auch ihr Übungsraum war gut mit der U-Bahn zu erreichen.
    
    Ich hatte mir die Lage der Adresse vorher auf Google Maps ...
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