1. Fluchtverhalten


    Datum: 14.10.2022, Kategorien: Romantisch Autor: Dingo666

    ... haben. Doch außer ihr kam niemals jemand auf den Balkon. Sie dagegen verbrachte jeden Tag mindestens eine Stunde dort, den Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Auch bei Nebel oder Nieselregen. Nur bei heftigem Niederschlag blieb der Vorbau verwaist.
    
    Sein eigener Balkon lag vor seiner Küche, ihr zugewandt. Nur ein einziges Mal war er zufällig draußen gewesen, als sie erschien. Das war, als er vor Pfingsten das alte Holzgeländer mit einer frischen Lasur überzog. Erst als er aus den Augenwinkeln sah, wie die Reflexion auf dem Glas der Balkontür drüben beim Öffnen erzitterte, wurde ihm klar, dass er auf sie gewartet hatte. Und dass er extra für sie ordentliche Kleider angezogen hatte. Nicht das hässliche Holzfällerhemd, das er sonst immer bei schmutzigen Außenarbeiten trug.
    
    Wie zufällig drehte er sich herum, sah sie und winkte grüßend hinüber. Ganz normal. Ein freundlicher Nachbar eben. Sie reagierte nicht. Schien ihn nicht einmal wahrzunehmen. Sah nur nach Westen, über die Bäume der Grünanlagen hinweg, in Richtung der sich langsam senkenden Sonne.
    
    Seitdem mied er seinen Balkon. Er sah lieber aus dem Küchenfenster. Nachdem das Plätschern des Kaffees verklungen war, nahm er die Tasse und schlenderte in sein Wohnzimmer. Der neue, riesengroße Fernseher mit den schicken Surround-Boxen ringsum sah ihn erwartungsvoll. Ja, er schien auffordernd zum wandhohen Regal mit den Hunderten von DVDs zu schielen.
    
    Die Sammlung stellte das Ergebnis lebenslangen Suchens und Hortens ...
    ... dar, auch wenn der Wert der Sammlung seit Netflix empfindlich gefallen war. Aber heute verspürte er wenig Lust, den Samstag mit einem Actionspektakel einzuläuten.
    
    Das Büro, direkt angrenzend. Sein großer Schreibtisch. Sein teures Notebook, das Zentrum seiner professionellen Aktivitäten als freiberuflicher Mitarbeiter einer Buchhaltungskanzlei. Auch die Bilanzen der von ihm betreuten Mittelständler übte momentan keinerlei Anziehungskraft auf ihn aus.
    
    Wie üblich stand mehr Arbeit als genug an. Sein Kunde Mölking & Weiß bastelte gerade hektisch an einer Präsentation für die Bank und würden spätestens am Montagnachmittag nach den Zahlen schreien. Dabei hatten sie ihm die Rohdaten vom Mai erst am Freitag durchgegeben.
    
    Egal. Das konnte er am Montagvormittag erledigen. Jetzt war Wochenende! Kurz irrten seine Gedanken ab, zerrten alte Eindrücke und Bilder aus seinen Erinnerungen hervor. Mit Amanda war er samstags oft über den Markt geschlendert. Der Geruch von reifem Käse vor dem Thekenwagen aus Frankreich. Buntes Gemüse in unordentlichen Ständen, die den Passanten den Weg verlegten. Amandas verschmitztes Lächeln über dem Rand ihrer Tasse. Sie hatte sie immer halb vor das Gesicht gehalten, so dass er nur ihre Augen erkennen konnte. Die Augen, die sich beim Lächeln wie Mandeln formten.
    
    Mit einem großen Schluck spülte er diese Spinnweben hinunter. Amanda war weg. Der Markt war auch weg, ebenso die alte Wohnung. Dafür hauste er jetzt in einem ruhigeren Viertel und besaß die ...
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