1. Fluchtverhalten


    Datum: 14.10.2022, Kategorien: Romantisch Autor: Dingo666

    ... zusammengefaltet.
    
    Ohne einen bewussten Gedanken nestelte Sascha den Zettel ab und strich ihn auseinander. Als er die gedrängte Schrift darauf sah, wurde ihm klar, wie seltsam er jetzt erst auf mögliche Beobachter wirken musste. Er ballte eine Hand um seinen Fund und ging schnell zurück ins Haus. Er sah erst wieder auf das Papierchen, als sich die Tür seines Domizils hinter ihm geschlossen hatte.
    
    "Bitte helfen Sie mir! Ich werde in dieser Wohnung gegen meinen Willen gefangen gehalten. Kommen Sie ab 23.00 Uhr auf meinen Balkon, dann kann ich ihnen alles erklären. Der Aufstieg geht über die Regenrinne ganz leicht. Ich flehe Sie an: lassen Sie mich bitte nicht im Stich! S."
    
    Stirnrunzelnd ließ Sascha den Zettel sinken. Was für ein Film lief hier ab? In welches Spiel sollte er hineingezogen werden? Alle seine Instinkte warnten ihn. Er konnte geradezu spüren, wie sie an seiner Haut zupften und seine Muskeln versteiften. Der glatte Teich seines ausgeglichenen Lebens drohte ohne Vorwarnung von einem Starkwind aufgewühlt zu werden, und der größere Teil von ihm ging sofort in Abwehrstellung.
    
    Er schluckte und zwang diese Attacke nieder. Alles war gut, alles war ok! Er war in seiner Wohnung, die Tür war geschlossen, niemand war da. Wenn er wollte, dann konnte er tage- und wochenlang alleine hier drin sein, nur über dünne Kupferkabel in Kontakt mit dem Rest der Welt.
    
    Alles war gut!
    
    Ein klarer Kopf, das war jetzt wichtig! Ganz ruhig, in aller Ruhe mal überlegen! Am ...
    ... besten über die Geschichte lachen, den Zettel wegwerfen, und den eigenen Balkon erst wieder benutzen, wenn das Mädchen ausgezogen war. Bis dahin nur hinter den zugezogenen Gardinen hervor hinüberschauen. Das war doch vernünftig, oder?
    
    Natürlich. Sascha ging in die Küche und nahm seine bevorzugte Beobachtungsposition ein. Keine schlanke Gestalt. Kein aschblondes, seidenlanges Haar, keine bittenden Augen.
    
    Na also! Alles nicht so schlimm!
    
    Sascha entspannte sich. So lange, bis er bemerkte, dass er den Verlauf der Regenrinne am Nachbarhaus akribisch von unten nach oben verfolgt hatte. Die vielen bequemen Querverstrebungen und Klettermöglichkeiten sprangen ihm förmlich in den Blick. In seiner Jugend war er öfters in den Bergen unterwegs gewesen. Neben den damals bezwungenen Felswänden wirkte die Fassade gegenüber wie eine Rolltreppe.
    
    O nein!
    
    Er würde sich nicht einmischen, keinesfalls! Der Himmel mochte wissen, in welchen Schwierigkeiten die Kleine war. Das war jedenfalls nichts für ihn!
    
    Hm - vielleicht ein anonymer Hinweis bei der Polizei? Aber nein, die konnten inzwischen sicher jeden Anruf automatisch zurückverfolgen.
    
    Er würde sich jetzt in aller Ruhe duschen, dann ein paar Filme aussuchen, "Matrix Teil 1 bis 3" oder so, und sich einen schönen Abend machen.
    
    Ja, das klang gut!
    
    ***
    
    Kurz vor elf stand Sascha mit jagendem Herzen vor dem Nachbarhaus und starrte an der Regenrinne empor. Die alte Jeans und das dunkelblaue Shirt sahen unauffällig genug aus und ...
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