Fluchtverhalten
Datum: 14.10.2022,
Kategorien:
Romantisch
Autor: Dingo666
... sollten bei der Dunkelheit Schutz vor einer schnellen Entdeckung bieten. Als er eine Hand an das kühle Metall legte, da durchfuhr ihn ein Schauer. Warum machte er diesen Blödsinn hier?
Mit einem letzten tiefen Atemzug umfasste er das Rohr und setzte den Fuß auf die Oberkante des Gebäudesockels.
Greifen. Greifen. Hochziehen.
Stand sichern. Anderer Fuß nachziehen.
Wenn ihn jemand sah und die Polizei alarmierte, dann würde er ihnen den Brief zeigen, der in seiner Hosentasche steckte. Er würde behaupten, er wollte einfach erst einmal selbst nachschauen, bevor er Alarm schlug. Was ja irgendwie auch stimmte. Als Buchhalter und bisher unbescholtener Bürger würden sie ihn kaum verknacken können.
Greifen. Greifen. Hochziehen.
Im Erdgeschoss war alles dunkel. Im ersten Stock kletterte er zwischen einem hellen Küchenfenster und einem kleinen Balkon durch, dessen Geländer er für eine ganz kurze Verschnaufpause nutzte. Klassische Musik wehte um seine Ohren. Familie Mueller vermutlich, mit denen hatte er sich schon ein, zwei Mal im Hof unterhalten.
Greifen. Greifen. Hochziehen.
In der zweiten Etage lebte diese alte Frau Kastfinger. Stocktaub und meist im Rollstuhl. Keine Gefahr von dort.
Greifen. Greifen. Hochziehen.
Dritter Stock. Beim Passieren ratschte etwas glühend über seine Schulter, zerriss den Stoff seines Shirts und stach ihm heimtückisch in die Seite. Er fluchte stumm und wich aus. Ein buntes Windrädchen war da mit dickem Draht an das Balkongeländer ...
... angebunden. Ein Ende stand drohend heraus, in der Dunkelheit praktisch nicht zu erkennen. Daneben ein Holzhase, wohl noch von Ostern.
Greifen. Greifen. Hochziehen.
Irgendwo im Vierten stritt sich ein Paar. Eine keifende Frauenstimme, missmutig brütend der Mann dagegen.
Greifen. Greifen.
Keuchend hing Sascha vor dem obersten Balkon. Er musste sich eingestehen, dass er nicht mehr der schlaksige Jugendliche war, der sich mühelos die steilsten Felswände emporzog. Trotz seiner Radtouren und den Abenden im Fitness-Center lagen die Tage seiner sportlichen Höchstleistungen wohl hinter ihm.
Vorsichtig schwang er sich über die Brüstung und kauerte an den Aluminiumplatten in Deckung. Er wartete einige Minuten, bis Herzschlag und Atem ruhiger gingen und der Abendwind den Schweiß auf seiner Stirn angetrocknet hatte.
Die drei riesigen Fensterflächen, die praktisch die gesamte Wand bildeten, spiegelten das matte Licht der Straßenbeleuchtung. Nur ganz rechts war hinter den Vorhängen so etwas wie ein Licht innen zu erahnen, klein und entfernt. Kein Laut unterbrach die Stille.
Ok, das reicht!, entschied er. Die Rinne ist kein Problem, da komme ich auch wieder gut runter. Genug Abenteuer für einen Abend.
Er klopfte vorsichtig an die Scheibe.
Nichts.
Dann Schritte.
Das Fenster hob sich um ein, zwei Zentimeter, und schnarrte komplett nach links.
"Kommen sie rein! Schnell!"
Eine schmale Hand kam durch die entstehende Öffnung, ergriff seinen Arm, und zog mit ...