1. Magische Orte


    Datum: 19.01.2020, Kategorien: 1 auf 1, Autor: Dingo666

    ... die darauffolgende Wirtschaftskrise zum Bankrott. Das Gebäude wurde von einem Geschäftsmann aus der Schweiz aufgekauft, doch die geplante Sanierung und Wiedereröffnung fand nie statt.
    
    Wem genau die Immobilie heute gehörte, das hatte Vera nicht ermitteln können. Jedenfalls schien seit hundert Jahren niemand mehr eine Idee zu haben, was man mit diesem Gelände und dem Jugendstil-Industriebau anstellen könnte. Also rottete es vor sich hin, bis der Wald es in eine Dornröschen-ähnliche Abgeschiedenheit gezogen hatte.
    
    Ein ´Lost Place´, wie er im Buch stand. Und zwar keiner derjenigen, die inzwischen zur Touristenattraktion verkommen waren. Wie aufregend! Sie nahm noch einen Schluck Wasser und begann mit der Erkundung. Der Baracke schenkte sie nur einige Blicke, da war nicht mehr viel zu sehen. Doch das Hauptgebäude, drei Stockwerke hoch und mit großen Bogenfenstern versehen, sah noch einigermaßen intakt aus.
    
    Die Doppelflügel des Haupteingangs waren mit Querbalken verrammelt. Hier kam sie nicht rein, ohne massive Gewalt anzuwenden, und das würde sie nicht tun. "Verändere nichts, nimm nichts mit außer Fotos, und lasse nichts da außer Fußabdrücken", so lautete der Slogan der Szene. Sie hielt sich daran, immer, denn sie war überzeugt von der Sinnhaftigkeit dieses Gebots.
    
    Langsam umrundete sie den Bau und bewunderte die Industriearchitektur einer vergangenen Epoche. Wie sorgfältig die Bögen über den Fenstern mit Backsteinen geformt waren! Die Dachsparren zierten sogar ...
    ... geschnitzte Enden. Die Fassade zeigte ein mattes Braunrot, an einigen Stellen fast schwarz. Die Zeit, sonst so flüchtig und abstrakt, war hier beinahe mit den Händen zu greifen.
    
    War es das, was sie so daran faszinierte?, fragte sie sich, nicht zum ersten Mal. Sie selbst war erst zwanzig Jahre alt, also geradezu ein Küken im Vergleich. Wie mochte es sein, wenn sie so alt war wie dieses Gebäude? Falls sie jemals dieses Alter erreichen sollte. Eine Gänsehaut zog sich über ihren Nacken.
    
    Auf der Rückseite erstreckte sich eine Laderampe, und hier stand eine verrottete Holztür einen Spalt offen. Sie umrundete einen gewaltigen Busch aus Brennnesseln und betrat die Rampe. Vorsichtig, die Stabilität prüfend. Das Herz pochte schwer in ihrer Brust wie immer, wenn sie vor der Schwelle eines besonderen Ortes stand. Sie streifte die feuchten Hände an der Shorts ab und lauschte an dem Türspalt.
    
    Nichts. Die Stille im Inneren schien noch tiefer. Vera sah sich um, eine Enge im Hals. Nur friedlicher Wald. Sonnenstrahlen, die beinahe senkrecht durch das Blätterdach fielen. Gerüche nach erhitztem Holz, nach Laub und nach trockenem Moos. Ein Specht hämmerte irgendwo in der Nähe drauflos.
    
    "Platz da, Indiana Jones!", murmelte Vera vor sich hin und kicherte. "Das hier würde dir auch gefallen, hm?"
    
    Sie atmete tief durch und schob sich durch den Spalt. Ein Lagerraum anscheinend, nicht besonders groß. Leer. Laub und Dreck häufte sich in den Ecken, und im Schmutz auf dem Boden zeichneten sich ...
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