1. Die Ratte


    Datum: 08.10.2022, Kategorien: CMNF Autor: Anonym

    Es war im Mai 1993, in Lindau am Bodensee.
    
    Das Wetter war kühl und regnerisch, ich war fast 16 und litt unter einer leichten Frühjahrserkältung. Mit der Gang konnte ich nicht mehr mitziehen und schon gar nicht über das Drahtseil balancieren oder, mit nichts als einem Schellengürtel und einem großen Tamburin bekleidet, wilde Zigeunertänze aufführen.
    
    Die Wirtin, bei welcher mir Xaver einen Schlafplatz auf dem Dachboden verschafft hatte, wurde nach kaum einer Woche anonym denunziert und wegen angeblicher Weinpanscherei und Hehlerei von der Polizei abgeholt. Die Taverne wurde geschlossen und versiegelt, und ich stand auf einmal mit meinem kurzen dünnen verschlissenen Kinderkleidchen und einer von der Trockenstange stibitzten roten Steppdecke auf der Straße.
    
    In Lindau Stadt konnte ich mich nicht blicken lassen, wenn ich nicht nach kurzer Zeit von der Polizei eingefangen werden wollte. Die Steppdecke war verräterisch. Also breitete ich sie in der Nähe des Strandes auf einer Wiese über zwei Büschen aus, setzte mich darunter, und wartete auf die Dämmerung.
    
    Mein Ziel war der Park auf der Lindau-Insel. Dort sollte es angeblich viele kleine Pavillons geben, in denen man gut auf einer Sitzbank übernachten konnte.
    
    Aber kaum war ich am Ende der Inselbrücke, da sah ich schon in der Ferne berittene Polizei im Park patrouillieren. Schnell weg!
    
    Im Bootshafen am Nordufer der Insel lagen jede Menge kleiner und großer Segelschiffe.
    
    Die Bodenseeregatta „RUND UM“ (den ...
    ... Bodensee) stand kurz bevor. Die Schiffe und Boote schienen aber alle leer und unbewohnt zu sein. Weil es schon wieder in Strömen goss, suchte ich mir ein mittelgroßes Segelboot aus, hob die Abdeckplane hoch und kroch darunter.
    
    Unter der Plane fand ich eine kurze Treppe und unten eine Tür mit einem Vorhängeschloss. Das war für mich kein Problem. Mit meiner bewährten Haarspange hatte ich es im Handumdrehen geknackt. Die Tür hatte nur wenige Latten mit Zwischenräumen für die Luftzirkulation, anstelle eines Türblattes, und es gelang mir, meine schmale Hand von innen her hindurchzuschieben und das Schloss wieder einschnappen zu lassen, so dass man mein Eindringen nicht merken sollte. Eine ganz leichte Übung für mich, dank Xavers Anleitungen.
    
    Wir hatten ja schließlich auch an den schlechteren Tagen etwas zum Leben haben müssen.
    
    Ich war durch den Rumpf bis an das vordere Ende des Bootes gekrochen. Durch die kleinen Bullaugen fiel ein schwaches Licht von den Hafenlaternen herein. Ich fand eine weitere schmale Tür fast ganz vorn, die, wie es aussah, niemals oder selten geöffnet wurde. Ihr Riegel war ganz eingestaubt.
    
    Ich öffnete sie und dahinter fand ich, was ich suchte. Einen ungeordneten Haufen von Planen, Segeltüchern und Seilen. Daraus polsterte ich mir notdürftig einen Schlafplatz aus und nickte auch bald erschöpft ein. Es war das Kabelgatt, vorn im Schiffsbug.
    
    Doch bald weckte mich ein pfeifendes Geräusch aus dem Schlaf. „Fiiiip, Fiiiip.“ Es kam aus diesem, meinem ...
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