1. Fluchtverhalten


    Datum: 14.10.2022, Kategorien: Romantisch Autor: Dingo666

    ... höchsten Wert daraufgelegt, sich seine Wohnung, seinen Beruf, sein Umfeld und sein ganzes Leben so einzurichten, dass er möglichst wenig mit anderen zu tun hatte. Möglichst ungestört vor sich hinvegetieren konnte. Dieser vertraute, ruhige Fluss der Dinge hatte sich buchstäblich über Nacht in einen Wildbach verwandelt, in dem Klippen und Stromschnellen als vergleichsweise harmlose Gefahren erschienen.
    
    Nun ja, auf die Dauer waren die Leinwand-Abenteuer aus zweiter Hand doch zu schal. Er fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Energiegeladen sprang er auf, pfiff laut und falsch vor sich hin und braute den ersten Kaffee des Tages.
    
    Sophie stand auf dem Balkon und streckte das Gesicht in der Sonne. Das helle Haar fing die warmen Strahlen ein und brach sie in glitzernde Pünktchen. Er meinte, den Geruch ihrer Haut noch in der Nase zu haben. Täuschte er sich oder drückte allein die Haltung ihres Kopfes frischen Lebensmut aus, neue Fröhlichkeit?
    
    Ein warmes Gefühl stieg in seiner Brust auf, zwischen Besitzerstolz und Beschützerinstinkt. Er genoss es für einige Sekunden, dann konzentrierte er sich auf die vor ihm liegenden Sachfragen. Es schien zu früh am Tag, um sich Gedanken über wirklich wichtige Dinge zu machen. Dinge wie Liebe zum Beispiel...
    
    Unter der Dusche legte er sich minuziös den Plan für die Fluchtvorbereitungen zurecht. Zuerst würde er Felix anrufen, seinen ältesten Freund. Er konnte vielleicht andeuten, dass er ein Verhältnis mit einer ...
    ... verheirateten Frau eingegangen war und dass er ein unauffälliges Liebesnest brauchte. Ja, das würde Felix gut verstehen, da würde er mitziehen!
    
    Dann der vorgetäuschte Urlaub. Vermutlich war es das Sicherste, einen dieser 39-Euro-Flüge von Ryanair irgendwohin zu buchen. Nicht zu vergessen die Abstimmung mit seinen Kunden.
    
    Als er rasiert und angezogen war und noch den intensiven Minzgeschmack der Zahncreme im Mund schmeckte, da platzte er beinahe vor Tatendrang und Aufregung. Die Luft, die er in seine Lungen sog, beinhaltete eine Schärfe, eine Frische, die er zuvor nicht wahrgenommen hatte. Die Strahlen der Junisonne hoben alle Dinge konturierter hervor, deutlicher. Sowohl das ferne Rauschen der Umgehungsstraße wie auch das Gedudel eines Radios irgendwo im Haus schienen demselben langsamen Takt zu folgen, in dem sein Herz schlug.
    
    Sophie würde ihm...
    
    Es klingelte.
    
    Sascha erstarrte kurz. Der Plastikgriff der Sprechanlage fühlte sich kalt an in seiner Hand.
    
    "Hallo?"
    
    Keine Antwort, nur das elektronische Rauschen der Leitung. Dann klopfte es direkt an die Tür seiner Wohnung, neben seinem Kopf. Leise, aber nachdrücklich. Automatisch öffnete er, das Gesicht ausdruckslos, mit jagendem Puls.
    
    "Guten Tag, Herr Wagner. Mein Name ist Nicolas Rohmann. Ich möchte gerne mit ihnen sprechen. Dürften wir eintreten?"
    
    Sascha starrte den Mann an. Mitte fünfzig, halb ergrauter Bart, gekleidet in einem cremeweißen Anzug mit Hut. Nicht größer als er selbst, doch auf eine unterschwellige ...
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