Die Nachbarin
Datum: 12.06.2019,
Kategorien:
1 auf 1,
Autor: Dimension Dom
... wie ein Geist. Unsere Gärten trennt nur ein niedriger Zaun, man kann fast unbemerkt kommen und gehen.
"Er dachte wirklich, wir hätten uns gestritten. Er hat mir eine richtige Standpauke gehalten. Das erste Mal seit langem, dass er sich auf die Hinterbeine gestellt hat", erklärt sie und setzt sich neben mich auf die Bank.
Einige Sekunden später fügt sie hinzu: "Wenn er bloß auch in anderen Situationen so wäre..."
Ich blicke sie uninteressiert an und trinke noch einmal von meinem Bier.
"Du bist doch nicht gekommen, um mir das zu sagen", stelle ich fest.
Wir schauen uns an. Unsere Blicke weisen die gegensätzlichsten Gefühle auf: Arroganz, Verachtung, doch auch Anziehung und Erregung.
"Ich hasse dich", beginnt Jana schließlich. "Was musst du wieder aus dem Nichts auftauchen und..."
Weiter kommt sie nicht. Sie kann unsere Aktion von heute Nachmittag schwer beschreiben, geschweige denn meine Rolle dabei. Geht mir genauso, doch ich habe eine Fortsetzung für ihren Satz parat.
"... Begehrlichkeiten wecken?", frage ich und trinke nach wie vor lässig mein Bier.
Zu gerne würde ich sie anschauen, aber ich lasse sie schmoren. Soll sie doch den ersten Schritt machen und irgendetwas sagen, erklären, auf mich zu kommen. Tut sie aber nicht. Die Sekunden vergehen und ich halte es nicht mehr aus. Ich drehe meinen Kopf nach links. Mit funkelnden Augen sieht sie mich an, ihr Kopf ist ein wenig gesenkt, sodass sie auf mich hinaufblickt. Nun bin ich mir sicher, warum ...
... sie gekommen ist.
Ich lehne mich an sie heran, um ihr ins Ohr flüstern zu können: "Die Kinder schlafen oben. Im Gästezimmer im Keller wird uns niemand hören können."
Sie nickt: "Er denkt, ich würde noch einige Dinge für das Sommerfest vorbereiten."
Meine Frau und Jana sind im Elternbeirat des Kindergartens aktiv, was so viel heißt, dass sie immer die lästigen Arbeiten verrichten müssen: Feste vorbereiten, schneiden, kleben, falten, beschriften usw.
"Ich muss mich etwas frisch machen. Musst du auch?", frage ich und erhalte einen eindeutigen Blick als Antwort.
"Ach, stimmt ja", lache ich auf. "Du bist schon frisch hergekommen."
Ich gehe hinauf und dusche schnell. Während das Wasser auf meinen Rücken prasselt, putze ich noch gründlich meine Zähne. Ein Bieratem ist nicht erregend. Meine Vorbereitung dauert keine zehn Minuten.
Als ich im Gästezimmer ankomme, schaut sich Jana gerade die Bücher im Regal an. Romane, Kinderbücher und alte Lexika reihen sich in bunter Vielfalt. Ihr Zeigefinger fährt über die Buchumschläge als würde sie etwas suchen, doch es ist ihr anzumerken, dass ihre Gedanken woanders sind. Diese kleine Erkundung der Einrichtungsgegenstände soll nur die Zeit totschlagen, bis ich eintreffe. Bin ich einmal da, hört sie damit auf.
Schon wieder so ein Blick. Vergrämt, vielleicht sogar zornig, aber gleichzeitig flehend. Meine Augen tasten sie von oben bis unten ab. Sie hat sich die Haare gewaschen, heute Nachmittag waren sie bei weitem nicht so ...