Frau Keller, Teil 01
Datum: 03.12.2019,
Kategorien:
Betagt,
Autor: bypoem50
Wir saßen wie üblich Samstags am Frühstückstisch und lasen die Zeitung. Da fiel mir ein brauner Umschlag in die Hände, der mit der Post gekommen sein musste. Er war an mich adressiert.
Ich schaute auf den Absender. War keiner angegeben. War sicher wieder Werbung oder ein ähnlicher Käse. Aber ich machte ihn mal auf und schaute hinein.
Es war nichts darin, außer einer Zeitungsseite. Komisch. Ich holte ihn heraus und sah: Das war eine Seite mit Todesanzeigen. Noch komischer.
Ich überflog die Seite. Das waren alles Namen aus der Stadt, in der ich als Kind gelebt hatte. Manche kannte ich nicht, manche kamen mir bekannt vor und bei einem dachte ich: „Ach nee, ist der alte Depp endlich abgekratzt". War höchste Zeit. Ein Unsympath und immer viel zu laut.
„In stiller Trauer", las ich da noch. So ein Heuchel-Verein. Zu 100% waren alle froh, dass der endlich unter der Erde lag.
Dann blieb ich an einer kleinen, unscheinbaren Anzeige hängen. Ich schaute genauer hin. Gerlinde Keller. Tatsächlich. Ich schaute mir Geburtstags- und Todestag an. Sie war 87 Jahre alt geworden.
„Alles ok?", fragte meine Frau. Ich war plötzlich tief in Gedanken versunken. Ihr Gesicht erschien vor meinem inneren Auge. Das war also der Grund für diesen Brief gewesen. Irgend jemand wusste, dass sie auch mich unter ihre Fittiche genommen hatte und wollte mich benachrichtigen.
Dann merkte ich, dass meine Frau ja noch auf eine Antwort wartete. Ja, alles ok", sagte ich, „eine alte Bekannte ist ...
... gestorben". „Ach so". Damit war das Thema erledigt.
Aber nicht für mich. Frau Keller. Ach herrjeh. Das traf mich jetzt doch etwas. Und meine Gedanken schweiften wieder ab.
Frau Keller. Nur zu gut erinnerte ich mich an sie. Ohne sie hätte der ein- oder andere Junge große Probleme gehabt. Frau Keller brachte uns bei, wie es geht.
Jugendliche, die sechzehn, siebzehn Jahre alt waren. Jugendliche, die voll in der Pubertät standen und nicht wussten, wohin mit ihrem Dauerständer.
Jugendliche, die aus dem Wichsen nicht mehr heraus kamen, aber doch wissen wollten, wie es wirklich war. Und die keine Freundin hatten, mit der sie es machen konnten. Und einer von denen musste mich kennen und hatte mir den Zeitungsausschnitt zu geschickt
Frau Keller musste damals so um die Vierzig gewesen sein. Sie war immer etwas etwas mürrisch. Kam wohl von ihrem öden Alltag oder ihrem versoffenen Alten. Oder von beidem. Und wenn ihr etwas nicht passte, dann sagte sie das deutlich.
Sie putzte nämlich die Schulräume, abends, wenn alle weg waren. Und wehe, wir waren mit dreckigen Schuhen ins Klassenzimmer gegangen, dann gab´s schon mal eine Rüge vom Klassenlehrer, dem sie das nämlich sofort aufs Butterbrot schmierte, wie man so sagt.
Frau Keller war die Frau von Herrn Keller, dem Hausmeister der Schule. Sie war nicht besonders hübsch, aber das war mir egal. Frau Keller hatte andere Qualitäten.
Man bekam sie nur zu Gesicht, wenn man etwas vergessen hatten und nochmal zurück in die Schule ...