1. Magische Orte


    Datum: 19.01.2020, Kategorien: 1 auf 1, Autor: Dingo666

    ... Raum.
    
    Till nickte zögernd und schlenderte umher, betrachtete kritisch die Wände und die Perspektiven. An einer Stelle hob er die Kamera, beschäftigte sich eine Weile mit Einstellungen, und drückte ab. Das Ratschen eines massiven Spiegelreflexverschlusses hallte durch den Raum und schwang in der Stille nach.
    
    Vera lehnte sich an eine schmutzige Fensterbrüstung und sah ihm zu. Till bewegte sich langsam, mit beherrschter Kraft. Das erinnerte sie an eine Raubkatze, die lässig durch die Savanne trottete. Aufmerksam, aber entspannt. Das passte hierher. Sie war dankbar, dass er nicht plapperte, und verfolgte das Spiel der Muskeln an seinen Armen und Beinen, als er sich stabil hinstellte und die Decke ins Visier nahm.
    
    Sollte sie auch ein paar Bilder schießen? Oder auf sein Angebot eingehen? Mal sehen. Im Moment war es gut, ihn machen zu lassen. Ihn zu beobachten.
    
    Er bemerkte ihren Blick und ließ die Kamera sinken. "Das ist das erste Mal, dass ich jemand anderen an einem solchen Ort treffe", meinte er, beinahe entschuldigend, und atmete durch.
    
    "Geht mir auch so." Sie kratzte sich am Hinterkopf. "Soll ich rausgehen? Willst du lieber alleine fotografieren?"
    
    "Nein, nein!" Er verzog die Mundwinkel. "Sogar ganz im Gegenteil."
    
    "Hm?"
    
    "Ich..." Er fingerte an seiner Kamera herum und blickte zu Boden. Dann sah er auf. "Das war ein unglaublicher Anblick vorhin, als du hier standst, die Arme hochgestreckt", erklärte er ernsthaft. "Ich dachte, ich bin in einem Traum ...
    ... gelandet, als ich zur Tür reinsah. Äh - ich würde gerne ein Bild so von dir machen. Natürlich nur, wenn du das möchtest."
    
    "Von mir?" Vera hob eine Hand vor den Mund, ein wenig überrumpelt.
    
    "Von dir." Er lächelte. Ein sehr gewinnendes Lächeln.
    
    "Nun - warum nicht", kicherte sie. "Dann bin ich mal das Model. Das Foto kannst du mir dann gerne schicken. Was soll ich tun?"
    
    "Stell dich einfach wieder hierher, wie vorhin. Mach die Augen zu. Vielleicht kannst du dich wieder so vertiefen." Till ging rückwärts, die Kamera in beiden Händen.
    
    Sie nickte und nahm dieselbe Position ein, genau in der Mitte. Die Augen zu. Entspannen. Die Arme hoch. Die Stille spüren. Alles wie vorhin. Sie war selbst neugierig, wie das Foto von ihr aussehen würde. Konnte man wirklich sehen, was in ihr vorging?
    
    Ein tiefer Atemzug. Strecken. Lauschen. Die Verbindung.
    
    Doch das war nicht so einfach. Sie hörte seine leisen Schritte, seinen Atem. Das fast unhörbare Klicken, wenn er eine Taste drückte. Das ergab ein anderes Feld. Keinen leeren Raum, in dem sie schwebte. Sondern zwei Punkte, er und sie. Dazwischen schwang eine Verbindung, gewollt oder nicht. Sie war nicht alleine, wurde ihr klar. War es nie gewesen, selbst im Waisenhaus nicht. Es gab immer andere Menschen, und es gab immer Beziehungen, Kontakte, Austausch.
    
    Vera mahnte sich zur Ruhe, wollte es mit Konzentration erzwingen. Doch das führte nur dazu, dass sie sich noch mehr als Bezugspunkt fühlte: Noch weniger alleine, noch weniger ruhig. ...
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