1. Die Sitzung


    Datum: 14.03.2019, Kategorien: Kunst, Autor: Anonym

    Ich bin fertig mit duschen und ich fühle mich jetzt wesentlich sicherer.
    
    Und auch viel leichter im Kopf, denn ich habe die Last einiger alter Albträume von mir geworfen.
    
    Ich habe mir gar nicht erst wieder etwas angezogen.
    
    Wozu auch? Nur, um es gleich wieder auszuziehen? Fände ich albern.
    
    Aber es baut sich schon wieder eine Spannung in mir auf. Ein kleiner Anflug von Angst. Ich muss dabei unwillkürlich an einen meiner schlimmsten Albträume denken:
    
    Ich stehe am helllichten Tag plötzlich splitternackt auf der Straße. Überall um mich herum sind fremde Leute, die mich hämisch lachend ansehen und mit den Fingern auf mich zeigen. Es gibt nichts, wo ich mich verstecken könnte.
    
    Da oben am Ende der Treppe ist jetzt der Aktkurs der Malschule von Andreas versammelt. Ich bin das Modell. Dort oben steht jetzt eine Gruppe von wildfremden Leuten, die mich gleich ansehen werden.
    
    Ich bin nackt und nirgendwo kann ich mich verstecken.
    
    Die letzten 4 Stufen. Brust raus, Kreuz gerade und mit den Zehen immer zuerst auftreten, nicht latschen, sondern einen Fuß genau vor den anderen setzen, wie eine Ballerina. Du musst jetzt Stolz und Selbstbewusstsein zeigen, Barbara.
    
    Oder doch lieber Jonny? Ich lasse die olle ängstliche Barbara auf der letzten Treppenstufe stehen, vergesse sie und öffne die Tür.
    
    Als „Jonny“.
    
    Den Namen hat mir Andreas verpasst, als ich sein weiblicher Kumpel geworden war.
    
    In dem riesengroßen Dachbodenatelier stehen etwa 10 bis 12 Leute.
    
    Männer ...
    ... und Frauen, alte und junge. Die älteste Frau schätze ich auf
    
    50, den jüngsten Mann etwa auf 17, so über den Daumen gepeilt.
    
    Sie lachen nicht und sie zeigen auch nicht mit Fingern auf mich.
    
    Es herrscht fast absolute Stille. Ich werde erwartet. Das kann ich spüren. Und spüren kann ich auch Verunsicherung bei ihnen und eine gewisse Distanz. Zwei junge Männer, die ihre Hocker zwischen mir und dem halbhohen Podest in der Mitte des Raumes hingestellt hatten, schieben diese hastig weg und machen eine Gasse frei. Die Gasse ist wesentlich breiter, als es erforderlich gewesen wäre. Meine Augen suchen einen Halt. Da ist Andreas. Er stand bisher neben dem Podest und kommt mir jetzt mit ausgestrecktem linken Arm entgegen.
    
    „Na endlich, da kommt sie ja! Liebe Kursteilnehmer, darf ich vorstellen: Johanna, unser heutiges Modell. Sie hat sich bereit erklärt, uns für die nächsten zwei Stunden den unverhüllten Anblick ihres naturgegebenen Körpers zu schenken. Ob es euch auch gelingt, ihre Seele unverhüllt zu erhaschen, liegt ganz bei jedem von euch selbst. Das wäre dann wahre Kunst und ich wäre darüber sehr erfreut. Die Johanna sicher auch“
    
    Johanna? Warum denn jetzt nicht Jonny? Trage ich einen Heiligenschein? Er möchte das wohl im privaten Rahmen belassen. Auch gut. Bin ich eben Johanna. Oder will er mir vielleicht damit etwas Bestimmtes sagen, das nur ich verstehen soll? Zum Beispiel:
    
    „Pass auf Jonny, das hier ist eine seriöse Veranstaltung und ich
    
    möchte nicht, dass du ...
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