1. Die Sitzung


    Datum: 14.03.2019, Kategorien: Kunst, Autor: Anonym

    ... hier das wilde Weib heraushängen lässt.
    
    Spiel mir das Lied von der heiligen Johanna, Jonny.“
    
    Ich sehe ihm in die Augen und er nickt. Ich grinse und nicke zurück.
    
    Aber ich will jetzt noch nicht auf dieses Podest steigen. Es soll nicht zu meinem Schafott werden. Ich bin nicht die Anne Boleyn.
    
    Mich stört diese unsichtbare Mauer aus Zurückhaltung, Verschämtheit und Distanz. Die Leute behandeln mich wie Luft. Für die meisten bin ich die Unsichtbare. The invisible Johanna. Was denken die jetzt? „Was ist das denn für eine? Warum macht die das? Wie kann die Schlampe bloß so herumlaufen? Ich würde mich an ihrer Stelle in Grund und Boden schämen.“
    
    Oder einfach: „Darf ich da wirklich hingucken?“
    
    Was hätte ich denn an ihrer Stelle noch vor 2 Stunden gedacht,
    
    wenn plötzlich hier ein ganz nackter Mann hereingekommen wäre?
    
    Ich verstehe. Aber ich muss diese Mauer zerbrechen, auflösen, abtragen, sonst werde ich mich hier nicht wohl fühlen. Wie wollen die denn meinen Körper zeichnen, wenn sie mich nicht mal richtig ansehen können? Oder tun die etwa nur so scheinheilig? Brauchen die etwa eine Aufforderung, um mich offen anzusehen? Ein „Los jetzt, Augen auf und hin sehen!“, quasi als Legitimation? Ich werde ihnen selber das Kommando geben und auch die Legitimation. Ich werde einfach auf jeden Einzelnen und jede Einzelne zugehen und ihnen die Hand geben. Genau so werde ich das machen. Rücken gerade, Brust raus und schreiten, wie eine Ballerina. Sind meine Schamlippen ...
    ... etwa noch rot von Andreas’ Griff? Zeichnen sich da gar noch seine „europäischen“ Fingereindrücke ab? Hoffentlich nicht. Ich kann da jetzt nicht hin sehen. Aber ich spüre, wie meine Titten und Pobacken bei jedem Schritt wippen und schaukeln. Nackt schreiten ist geil… JOHANNA!
    
    Der Erste, auf den ich zugehe, erweist sich als schwierig und wird gleichzeitig ungewollt zum Anstößer des ersten Dominosteines, der die ganze Mauer zum Fallen bringt. Er hat sich gerade halb von mir weg gedreht und betrachtet scheinbar konzentriert einen schrägen Dachbalken. Dann richtet sich sein Blick außerordentlich interessiert nach oben, zu dem riesengroßen Glasfenster im Dach, an dessen Rand gerade eine Taube zum Kacken den Schwanz hebt. Ich strecke ihm die rechte Hand hin, aber er ignoriert sie oder er bemerkt es gar nicht.
    
    Ich tippe ihm leicht auf die Schulter. Was folgt, ist eine kleine
    
    Explosion. Er schreit erschrocken auf, wischt meine Hand hektisch von seiner Schulter, spürt meine Finger, fährt dann zu mir herum und starrt mich an, als stünde er der leibhaftigen Medusa von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er hatte wohl geglaubt, vom Taubenschiss getroffen worden zu sein. Dann erst kommt er langsam zu sich.
    
    Inzwischen hatte aber eine männliche Stimme von hinten sarkastisch dazu
    
    kommentiert: „Huch! Ne nackte Frau!“
    
    Alle haben die Szene beobachtet und brechen in lautes befreiendes
    
    Gelächter aus. Sie lachen, und ich freue mich darüber. Kein Albtraum. Das Eis ist gebrochen. Die ...
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