1. Die Sitzung


    Datum: 14.03.2019, Kategorien: Kunst, Autor: Anonym

    ... ausgrenzende Mauer ist gefallen. Der Taubenfreund ergreift jetzt meine Hand, lächelt verlegen und sagt: „Tach, `Tschuldigung, ich bin der Holger.“ „Johanna, willkommen hier“ sage ich, obwohl er das ja eh schon weiß.
    
    Die Anderen kommen jetzt von selbst auf mich zu und strecken mir die Hände entgegen. Ich komme mit Händeschütteln kaum so schnell nach und die Namen kann ich mir schon gar nicht alle gleich merken.
    
    Ich stehe nackt und frei in einem Kreis von fremden Menschen, die mir freundlich direkt in die Augen und sonst wohin schauen und die mir ihre Hände entgegenstrecken und nicht mit Fingern auf mich zeigen. Hände waren mir schon immer lieber, als Finger. Ich fühle mich endlich richtig angenommen hier. Schon wieder bin ich einen Albtraum los. Wie viele Albträume waren das eigentlich heute, die ich hoffentlich für immer von mir geworfen habe? Das ist ja hier und heute eine richtige Psychotherapie. Die Krankenkasse hätte das bestimmt nicht bezahlt.
    
    Nur Einer bleibt reserviert. Er sieht sehr gepflegt aus und riecht nach einem
    
    blumigen Parfüm. Sein Name ist Björn, glaube ich. Er gibt mir nur lasch und halbherzig die Hand und dreht sich gleich wieder zur Seite weg.
    
    Na ja, ich bin wohl nicht sein Typ. Damit kann ich leben. Kein Problem.
    
    Jetzt bin ich bereit für das Schafott. Äh, für das Podest. Ich schaue zu Andreas hin. Der schüttelt ungläubig mit dem Kopf und lächelt dabei amüsiert. Ich glaube, er ist jetzt stolz auf mich. Und auch auf sich. Da sind wir uns ...
    ... heute wieder mal einig.
    
    Andreas hat einen Stuhl in die Mitte von dem Podest gestellt und ist selbst hinaufgestiegen. Von oben reicht er mir die Hand und hilft mir beim Hochklettern. Die Kursteilnehmer beobachten jetzt aufmerksam jede Bewegung von mir. Das kann ich auf der Haut spüren. Warum bloß? Liegt wohl an mir selber. Einbildung. Ich setze mich auf den Stuhl. Andreas nickt und korrigiert meine Haltung mit seinen Händen.
    
    Hart und bestimmt. Er drückt mir das Kinn hoch, die Schultern zurück und legt meine Hände so auf die Kniescheiben, dass die Daumen nach innen und die Finger gerade nach unten zeigen. Dann stellt er mir die Füße einen guten Meter weit auseinander. Ich gehe mit den Schenkeln mit und stelle fest, dass meine Schamlippen gerade noch geschlossen bleiben und Gott sei dank nicht mehr rot gescheckt sind. Ich erwarte noch mehr Brührungen von ihm, aber er ist schon wieder unten, auf dem Boden.
    
    „So, liebe Kursteilnehmer, Beginnen wir mit der Anatomie.
    
    Ich habe mir, wie ihr wisst, vorhin eure bisherigen Arbeiten
    
    angesehen und dabei festgestellt, dass die meisten von euch gar keine und nur ein geringer Teil von euch schon gelegentliche Erfahrungen
    
    mit Aktzeichnen am lebenden Modell haben.
    
    Das Abzeichnen und Durchpausen von Bildern und Fotos hat nichts
    
    mit dem zu tun, was wir heute machen. Deshalb eine kurze
    
    Einführung von mir.
    
    Regel Nummer eins:
    
    hinschauen.
    
    Regel Nummer zwei: noch mal hinschauen.
    
    Regel Nummer drei:
    
    lange und ...
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