Die Sitzung
Datum: 14.03.2019,
Kategorien:
Kunst,
Autor: Anonym
... gründlich hinschauen.
An unserer Johanna gibt es nichts, was eure Augen beleidigen
könnte und eure Blicke können an Johanna nichts beschädigen.“
Von hinten links kommt ein fast weinerlicher Seufzer: „Hm, hm. hm“
Es ist der Gepflegte mit dem Blümchenduft.
Andreas lässt sich aber nicht beirren. Er geht einfach darüber hinweg.
„Hör zu und störe nicht, Björn, bitte, ja?
Zur Symmetrie: Obwohl der Mensch ja eigentlich einmalig ist, so ist
bei ihm dennoch fast alles doppelt angelegt oder zweigeteilt.
Wie man auch an Johanna hier sieht: Augen, Nasenflügel, Lippen,
die Oberlippe ist beim Embryo sogar noch getrennt.
Die Schlüsselbeine, die Brüste, Die Rippen, die Bauchmuskeln, die
Beine…“
„Das Herzchen ist aber einmalig.“ Kommt es von vorn. es ist der 45-jährige, Helmut heißt er, glaube ich. „Richtig“, sagt Andreas, „aber auch das ist zweigeteilt. Sonst würde es die Symmetrie brechen und nicht mehr so hübsch aussehen.“ Aber grinsen muss er jetzt doch.
Da meldet sich auch noch vorlaut Mike, der 18-jährige:
„Und die Pobacken sind auch zweigeteilt.“
„Ja, natürlich. Aber da sitzt sie ja jetzt drauf und man kann nur einen Teil davon sehen. Wenn wir gerade mal dabei sind: auch die
Schamlippen sind natürlich doppelt und fast alles, was sich dahinter
verbirgt. Keine weiteren Kommentare, bitte. Diese Symmetrie des
Körpers wird von uns im Allgemeinen als Schönheit empfunden. Das
einzige, was am äußeren Körper nicht symmetrisch oder ...
... doppelt ist,
ist der Nabel am Bauch. Und noch ein Teil, das hier nicht von
Interesse ist.“
In der zweiten Reihe flüstert Einer: „Das Arschloch.“ Hinten links stöhnt jemand ganz leise auf.
Andreas doziert weiter:
„Absolute Symmetrie wirkt zwar schön aber gleichzeitig auch langweilig, wie eine künstliche Puppe. Kleine Abweichungen von der Symmetrie erzeugen erst die Besonderheit und den ganz persönlichen Charakter eines Gesichts oder eines Körpers. Man muss diese kleinen Abweichungen herausfinden und darstellen.
Man kann sie auch überzeichnen. Dann wäre es eine Karikatur.
Wir arbeiten deshalb hier auch nicht mit Zirkel und Lineal, sondern frei Hand. Da ergeben sich die kleinen Abweichungen von selbst.
So, genug geredet fürs erste. Ich bitte jetzt darum, dass sich die weniger Erfahrenen und die Neulinge mit ihrem Zeichenbrett oder ihrer Staffelei möglichst frontal und vor unserer Johanna aufstellen, um die Symmetrie zu erfassen, und die schon Erfahrenen mehr seitlich, so dass sie auch schon mal die Perspektive und die räumlichen Verschiebungen, sowie die Verkürzungen gleich mit
üben können.“
Es beginnt ein Stühle rücken und Staffelei verschieben und ich komme mir immer mehr wie ein Gegenstand vor. Ich bin jetzt nur noch das Objekt der symmetrischen und perspektivischen
Körper-Betrachtung. Sie haben mich vereinnahmt. Es wird still auf dem Dachboden. Man hört nur noch die leisen Kritzelgeräusche.
Mike, der Teenager, sitzt direkt vor mir, an der ...