Weeslower Chroniken - Prolog - Sommer 1999
Datum: 24.03.2024,
Kategorien:
Schamsituation
Autor: nudin
Michael Schneiders einziger Luxus als Student war sein Camping-Bus. Der 25-jährige wohnte in einem kleinen WG-Zimmer in Berlin-Wedding und versuchte, sich mit Kellnern und Nachhilfestunden finanziell über Wasser zu halten. Schließlich war es seine eigene Entscheidung gewesen, zum Studieren nach Berlin zu gehen, statt bei seinen Eltern in Sachsen-Anhalt wohnen zu bleiben und im nahen Magdeburg Lehramt zu studieren. Nein, er wollte in die größte und spannendste deutsche Stadt ziehen. Und damit er etwas davon hatte, also ausgehen und tanzen gehen können, verzichtete er ansonsten auf vieles.
Er hätte sich selbst kein Auto gegönnt. Doch im vergangenen Jahr war sein Onkel aus dem Westen viel zu jung verstorben, und seine Tante hatte ihm das Angebot gemacht, den gemeinsamen VW Bulli weit unter Marktpreis zu verkaufen, für nur 4.000 D-Mark. Dabei war der Bus erst vier Jahre alt. Michael aber kam er vor wie neu. Und das Geld durfte er auch noch abstottern in ganz kleinen Raten. Da hatte er nicht nein sagen können.
Jetzt in den Sommer-Semesterferien fuhr Michael damit wieder durch ganz Deutschland. Am liebsten aber gen Norden an die Ostsee, oder auch zur Mecklenburgischen Seenplatte. Übernachten konnte er überall. Tagsüber ging er an den Strand oder an stille Seen, ging schwimmen, paddeln oder nahm sein Rennrad und fuhr über Land.
Lieber wäre er mit Svenja gefahren, seiner Freundin. Ex-Freundin. Leider. Doch kurz vor dem Semesterende hatte sie ihn sitzen lassen. Nachdem ...
... ersten Trennungsschmerz jedoch fühlte er sich so allein unterwegs, nichts und niemandem verantwortlich und völlig selbstbestimmt, zunehmend wohler. Und er hatte ja viele gute Bücher dabei. Und das Wetter war bestens.
Nach einem Wochenende Anfang August, das er in Berlin verbracht hatte, fuhr er nun an einem sonnigen Montag erstmals in nordöstliche Richtung hinaus aus der Stadt. Hier erwartete er nichts. Jedenfalls nichts anderes als stille Landschaft, schöne Seen, grenzenlose Natur. Und ein paar Stunden mit dem Rad durch die Gegend sausen.
Es war ein heißer Tag, und die Freizeitkarte, die er sich von Brandenburg gekauft hatte, zeigte ihm einige Badestellen an, die er später ansteuern konnte. So kam er zunächst nach Festenwalde, bog dort ab in Richtung einer kleinen Stadt namens Weeslow. Hier überkam ihn der Hunger. Er hielt nahe des Marktplatzes und holte sich in einem Imbiss ein halbes Hähnchen, das er draußen in der Sonne an einem einfachen Campingtisch davor verspeiste. Danach fühlte er sich so gesättigt, dass ihm mehr nach einer Ruhepause im Schatten eines Baumes war als nach Radsport. Er studierte die Karte. Der nächste Badeplatz war keine zweihundert Meter weiter am Mühlensee eingezeichnet.
Er überlegte. Er hatte keine Badehose mit. Er besaß keine Badehose. Niemand in seiner Familie besaß eine Badehose. Alle machten FKK. Er musste an Svenja denken, die Bürgerliche aus dem Westen, die mit dem `Nacktfimmel` in seiner Familie, wie sie es abfällig nannte, nie was ...